Informatik ist eine Kernkompetenz der Zukunft“ – Grant Henrik Tonne, Kultus-Minister von Niedersachsen
Unter dieser Prämisse wird derzeit in Deutschland über den Status Quo des Schulfaches Informatik diskutiert. Sollte Informatik Pflichtfach an weiterführenden Schulen werden, sollte man es nur wahlweise anbieten oder sollte das Fach gänzlich aus dem Curriculum verschwinden?
Das Land Niedersachsen hat sich dazu entschieden, Informatik als ein solches Pflichtfach ab dem Jahr 2023 an allen weiterführenden Schulen einzuführen. Wahlweise können Schulen freiwillig auch nach dem Sommer 2022 schon damit beginnen (DifÜ 2022).
Auch wir als ITgirls diskutieren immer wieder das Thema und nehmen dies als Anlass, uns der Fragestellung anzunehmen und euch die Situation unter anderem mit Erfahrungsberichten genauer darzustellen.
Zum Status Quo
Im bundesweiten Vergleich haben aktuell nur 5 von 16 Bundesländern Informatik als Pflichtfach in den Lehrplan integriert. Darunter hat Mecklenburg-Vorpommern mit verpflichtendem Unterricht in allen Schulen ab der 5. Jahrgangsstufe derzeit die umfassendste Umsetzung. Die Regelung in Sachsen ist ähnlich, wobei hier in den meisten weiterführenden Schulen Informatik als Pflichtfach im Lehrplan enthalten ist. In Bayern, Baden-Württemberg und dem Saarland ist Informatik nur in einzelnen Jahrgangsstufen ab der 5. Klasse verpflichtend. Mit Niedersachsen kommt ab 2023 ein 6. Bundesland dazu. Auch Schleswig-Holstein will Informatik als Pflichtfach ab der Mittelstufe im kommenden Schuljahr einführen.
In Hamburg war Informatik sogar bis 2013 Pflichtfach an den Stadtteilschulen, seitdem ist es Wahlpflichtfach. An Gymnasien werden im Rahmen der Profiloberstufe verpflichtende Informatikkurse als Teil eines Profils angeboten. Allerdings gibt es nicht an jeder Schule die Möglichkeit, Informatik zu wählen, aktuell bieten ca. 60% der Stadtteilschulen und 70% der Gymnasien Informatikunterricht an.
Alle anderen Bundesländer mit Ausnahme von Bremen und Hessen haben ein Curriculum für Informatik, sodass Informatik von den Schüler:innen wahlweise gelernt werden kann. In Bremen und Hessen gibt es aktuell keine Möglichkeit für Schüler:innen die Inhalte der Informatik, sei es wahlweise oder verpflichtend, zu erlernen (DiFü 2022).
Übersicht der Gesellschaft für Informatik e.V.
Was wird in Informatik als Schulfach gelehrt?
Am Beispiel des neu eingeführten Curriculums in Niedersachsen schauen wir uns einmal an, welche Inhalte im Fach Informatik vermittelt werden sollen. Es gibt vier Kernbereiche: Daten und ihre Spuren, Computerkompetenz, Algorithmische Problemlösung, und Automatisierte Prozesse (niedersächsisches Kultusministerium 2022).
Im Lernfeld Daten und ihre Spuren lernen Schüler:innen, welche Spuren wir bei der Nutzung des Internets hinterlassen, wie das Internet grundsätzlich aufgebaut ist, sowie wie Daten gespeichert werden und wozu diese genutzt werden.
Computerkompetenz lehrt die Fähigkeit “Informationen zu recherchieren, zu sammeln, zu verarbeiten und diese kritisch und systematisch zu verwenden, ihre Relevanz zu beurteilen und beim Erkennen der Links Reales von Virtuellem zu unterscheiden.“ (IICIIS, 2022). In anderen Worten lernen Schüler:innen in diesem Modul, die kritische Auseinandersetzung der Nutzungsmöglichkeiten von Computern und Internet.
Algorithmische Problemlösung ist ein Kernbereich der Informatik, da jedes Programm Algorithmen enthält und verwendet. Ein Algorithmus ist eine präzise Anwendungsvorschrift, mithilfe derer man Probleme lösen kann. Die Schüler:innen sollen sich in diesem Abschnitt dem Algorithmusbegriff nähern und ein Grundverständnis für algorithmisches Denken entwickeln.
Im Lernfeld Automatisierte Prozesse wird Schüler:innen beigebracht, wie man einen bestehenden Prozess automatisieren kann, sodass sich wiederholende Tätigkeiten nicht mehr von Menschen ausgeführt werden müssen und mehr Zeit für kreatives Arbeiten bleibt. Ein automatisierter Prozess aus der BWL kann bspw. aussehen wie folgt: Bei einer Automatisierung erkennt ein Roboter anhand der Telefonnummer, um welche Kundin es sich handelt und spielt alle in der Datenbank hinterlegten Daten in das Dashboard der App.
Erfolgsfaktoren für guten Informatikunterricht
Zum Schluss wollen wir noch kurz über Erfolgsfaktoren von gutem Informatikunterricht sprechen. Ähnlich wie im Fach Mathematik, welches bekanntermaßen als Schreckgespenst unter den Schüler:innen gilt, hat auch Informatik mit einigen Vorurteilen zu kämpfen. Als solche gelten bspw., dass Informatik kompliziert oder langweilig, sehr theoretisch und sowieso nichts für Mädchen ist. Insbesondere deswegen kommt es vor allem auf das Marketing des Faches an, sowie auf die Didaktik, die genutzt wird, um die Lehrinhalte zu vermitteln. Zusätzlich sind die Lehrer:innen immer entscheidend für den Erfolg eines Fachs und sehr prägend für die Schüler:innen. Daher muss es genug motivierte Lehrer:innen geben und besonders auch hier auf eine ausgeglichen Geschlechterverteilung geachtet werden.
Es sollte vor allem sichergestellt werden, dass Schüler:innen der Bezug zur Praxis von Anfang an vermittelt wird. Das Internet und insbesondere soziale Medien sind mittlerweile nicht mehr aus unserem Alltag wegzudenken, sodass sich hier leicht Bezugspunkte herstellen lassen. Drohnen, selbstfahrende Autos und smarte Kühlschränke bieten dagegen Einblicke in die Robotik und das Internet of Things. Auch die Schattenseiten der Vernetzung unserer Gesellschaft und unseres Alltags in Form von Hackerangriffen oder Vorratsdatenspeicherung sind eine Auseinandersetzung wert. „Informatik zum Anfassen“ muss das Motto lauten.
Auch das Thema Projektarbeit könnte ein Schlüsselfaktor zum Erfolg von Informatikunterricht werden. Schüler:innen arbeiten nachweislich produktiver und lösungsorientierter, wenn diese eine Aufgabe bzw. ein Problem bekommen, welches in Zusammenarbeit mit einer Gruppe gelöst werden muss. So werden auch die Barrieren zwischen Mädchen und Jungen abgebaut und Schüler:innen mit Vorkenntnissen arbeiten mit weniger fortgeschrittenen Schüler:innen zusammen. Es werden nicht nur Hard Skills vermittelt, sondern auch soziale Fähigkeiten spielerisch weiter ausgebaut.
Was wir dazu denken – Maja von den ITgirls
Ich selbst hatte (leider) keinen verpflichtenden Informatikunterricht in der Schule. Rückblickend hätte ich es mir jedoch sehr gewünscht, da bei mir vor allem die Vorurteile der Grund waren, das Fach nicht zu wählen. Ich habe den Jungs dabei zugeschaut, wie sie Webseiten programmiert haben und Robotern Befehle beigebracht haben, während ich Vokabeln gelernt habe. Ich würde nicht mal behaupten, dass es bei mir persönlich am Interesse gescheitert ist, sondern an mangelndem Selbstvertrauen und zu viel gut gemeintem, aber schlecht ausgeführtem Rat von anderen. Nach Abschluss meines Studiums in Betriebswirtschaftslehre arbeite ich zwar noch immer nicht in der IT, aber ich habe durch die Arbeit bei ITgirls immer mehr Berührungspunkte mit Informatik und habe schon lange die „Angst“ davor verloren. Oft habe ich mich gefragt, ob mein Berufsweg anders ausgesehen hätte, wenn ich verpflichtend Informatik in der Schule gelehrt bekommen hätte. Eine definitive Antwort auf die Frage gibt es nicht, allerdings hätte ich um einiges früher die Berührungsangst verloren und eine Perspektive aufgezeigt bekommen, von der mir nicht einmal bewusst war, dass es sie gibt.
In diesem Sinne stimme ich Achim Berg, dem Präsidenten der Bitkom e.V. zu, der der Ansicht ist: “Nicht alle Menschen müssen ITler werden, aber ausnahmslos alle sollten in der Lage sein, sich selbstbewusst und selbstbestimmt in der digitalen Welt zu bewegen und die digitalen Technologien produktiv einzusetzen.“ In diesem Sinne muss der Einsatz von Informatik an weiterführenden Schulen nicht nur dem Fachkräftemangel entgegenwirken, sondern soll und muss vor allem auch bei Kindern und Jugendlichen für mehr Sicherheit im Umgang mit digitalen Medien sorgen, da im Jahr 2022 kein Weg mehr an ihnen vorbeiführt.
Was wir dazu denken – Anni von den ITgirls
Während ich in der Oberstufe die Möglichkeit hatte, im Rahmen meiner Profilwahl Informatik endlich in meinen regulären Schulalltag einzubinden, bot meine Schule das Fach bis zur 10. Klasse lediglich als Wahlpflichtfach oder AG an. Dementsprechend war die Belegung eher spärlich und insbesondere das Geschlechterverhältnis sehr unausgeglichen. Die Positionierung von Informatik als Wahlpflichtfach neben Kreativem Schreiben oder Musik zeigte zudem auch die Bedeutung, die der Informatik damals beigemessen wurde – eine Nebensächlichkeit oder ein Hobby, aber kein Fach, das unser Verständnis und unsere Mitgestaltung der Gesellschaft bestimmt. Gleichzeitig beschäftigten sich die Inhalte, selbst ab der 10. Klasse, lediglich mit den Grundlagen der Programmierung und im Ansatz auch mit Inhalten der Theoretischen Informatik, sodass viele meiner Mitschüler und insbesondere Mitschülerinnen sich in ihren Vorurteilen bestätigt sahen. Ich selbst hatte ebenfalls wenig Spaß am Unterricht – bunte Dreiecke über einen Bildschirm zu bewegen oder 80-jährige Professoren über Sortier-Algorithmen sprechen zu hören, hatte damals kaum Überschneidungen mit meinen Interessen als Teenager. Andere Fächer wie Politik, Ethik oder Geschichte erschienen mir da viel spannender.
Heute bin ich Softwareentwicklerin und mache nebenberuflich einen Master in Angewandter Informatik. Mein Weg dahin war allerdings sehr lang und steinig und oft habe ich mit meinen Entscheidungen, mich in eine zunehmend technische Richtung zu entwickeln, gehadert. Mein 16-jähriges Ich würde wahrscheinlich nicht glauben, dass ich zu so etwas fähig bin. Ohne die fortwährende Unterstützungs- und Überzeugungsarbeit meiner Freunde hätte ich wohl niemals den Mut und das Selbstvertrauen gefasst, diesen Weg zu gehen. Trotzdem kann ich mit voller Überzeugung sagen, mittlerweile meinen Traumberuf gefunden zu haben. Ich freue mich oft sonntags schon auf Montag und programmiere auch gerne in meiner Freizeit.
Ich kann nicht mit absoluter Sicherheit sagen, dass mein Weg zu meinem Traumberuf durch besseren oder umfangreicheren Informatikunterricht kürzer oder leichter gewesen wäre. Er hätte mir aber definitiv die Vorurteile sowohl über das Fach, als auch über meine eigenen Fähigkeiten genommen und mir geholfen, eine andere Sichtweise auf meine Umwelt zu erlangen. Hinzu kommt, dass meine Schulzeit mittlerweile fast 10 Jahre zurückliegt – 10 Jahre, in denen Smartphones und soziale Medien allgegenwärtig geworden sind. Heute kommt niemand mehr um die Nutzung des Internets herum. Das Ziel der Schulbildung – mündige Bürger und Bürgerinnen auszubilden – kann ohne Aufklärung über die selbstbestimmte Nutzung des Internets und den Stellenwert von Informatik in unserer Gesellschaft nicht erreicht werden. Daher bin ich absolut für Informatik als Pflichtfach ab der 5. Klasse und die Erweiterung der Lehrinhalte nach dem niedersächsischen Modell.
Wir setzen uns sehr dafür ein, dass Informatik zum Pflichtfach in allen Bundesländer wird. Mit unserem Blog und unseren Social Media Kanälen versuchen wir gemeinsam mit vielen Initiativen wie der HackerSchool diese aktuelle Lücke aufzufüllen und sehen die Notwendigkeit eines Informatikunterrichts. Für mehr Updates folgt uns auf Instagram und LinkedIn.