NEU!Ab sofort überall, wo es Podcasts gibt: ITgirls Talk! Jeden Dienstag eine neue Folge  

Unsichtbare Frauen

Wir alle leben in einer Welt, die in weiten Teilen für Männer designt ist. Ein wesentlicher Grund hierfür ist, dass Frauen bei der Erhebung von Daten scheinbar unsichtbar sind. Wie dadurch eine systematische Benachteiligung von Frauen entsteht, erklärt das Buch 'Unsichtbare Frauen: Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert'

Juli 26, 2021

Headerbild vom Artikel

Wir alle leben in einer Welt, die in weiten Teilen für Männer designt ist. Ein wesentlicher Grund hierfür ist, dass Frauen bei der Erhebung von Daten scheinbar unsichtbar sind. Als Folge entsteht eine systematische Benachteiligung von Frauen, die wir alle jeden Tag in unserem Alltag erleben. Wie dieses System funktioniert und wie weitreichende dessen Ausmaße sind, erklärt Caroline Criado-Perez in ihrem Buch Invisible Women – Exposing data bias in a world designed for men (Deutscher Titel: Unsichtbare Frauen: Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert).

Eine Welt, die für Männer designt ist

Zunächst ist wichtig zu verstehen, was der Gender Data Gap überhaupt ist. Diese ist nämlich nicht mit dem Gender Pay Gap – also der durchschnittlich niedrigeren Bezahlung von Frauen im Vergleich zu Männern – gleichzusetzen. Auch wenn der Gender Pay Gap ein wichtiger Teilaspekt des Gender Data Gap ist, gehört weit mehr dazu. Grundsätzlich ist das Problem, dass unsere Welt für einen durchschnittlichen, berufstätigen weißen Mann gestaltet ist. Doch offensichtlich ist das nicht von allen die Lebensrealität. Obwohl Frauen bekannterweise die Mehrheit der Bevölkerung sind, werden viele Dinge nach dem Motto ‘one-size-fits-men’ designt. Das beginnt bereits bei Werkzeugen, die zu groß für die Hand der meisten Frauen sind und daher das Unfallrisiko von weiblichen Fachkräften auf Baustellen erhöhen. Das Buch zeigt in beeindruckender Weise auf, wie vermeintlich neutrale Gegenstände in der Mehrheit der Fälle auf die Charakteristika eines Mannes abgestimmt sind. Dabei verdeutlicht die Autorin, wie wenig Daten wir bislang systematisch erfasst haben, und wie durch dieser Gender Data Gap Frauen quasi unsichtbar erscheinen. Positiv hervorzuheben ist dabei, dass das Buch nicht Männer als Schuldige darstellt. Stattdessen ist es eine Dokumentation nachweisbarer Fakten und gesellschaftlich gewachsener Systeme, die mir an zahlreichen Stellen die Augen geöffnet haben.

Die Gender Data Gap kann lebensgefährlich sein

Die Darstellung der unterschiedlichen Seiten des Gender Data Gap ist aus meiner Perspektive eine weitere Stärke des Buches. Erstens gibt es biologische Unterschiede zwischen dem männlichen und weiblichen Geschlecht (Englisch: sex). Das Problem ist hierbei nicht, dass diese existieren, sondern im Gegenteil, dass sie zu wenig berücksichtigt werden. Das liegt zu großen Teilen an zu wenig vorhandenen geschlechtsspezifische Daten. In vielen wissenschaftlichen Studien werden ausschließlich oder überwiegend männliche Probanden einbezogen. Sofern überhaupt beide Geschlechter beteiligt sind, werden die Ergebnisse in vielen Fällen nicht nach Geschlechtern aufgeteilt – mit fatalen Folgen. Beispielsweise gibt es immer mehr Anhaltspunkte, dass einige Medikamente und medizinische Behandlungen eine unterschiedliche Wirkung auf weibliche und männliche Körper haben. Die Autorin stellt hier die kritische Frage, wie viele für Frauen wirksame Medikamente wohl nie auf den Markt gekommen sind, weil sie nur an Männern getestet wurden? Der weibliche Körper ist nach wie vor weniger erforscht als der männliche. Eins der wenigen bekannteren Beispiele ist hier, dass Frauen häufig andere Symptome bei einem Herzinfarkt haben als Männer und dies seltener oder später erkannt wird, weil in der Bevölkerung vordergründig die Symptome eines Mannes bekannt sind – Minuten, die über Leben und Tod entscheiden können.

Ebenso wurden bis 2011 in Crashtests von Autos ausschließlich männliche Dummies verwendet – mit der Konsequenz, dass Frauen bei Autounfällen häufiger schwer oder tödlich verletzt werden. Das Buch führt hier noch sehr viele weiter spannende Beispiele an, die mir teilweise sehr bekannt vorkamen, während andere mir nicht bewusst waren und mich einfach nur schockiert haben.

Homogene Gruppen können die Lebensrealität von anderen nicht abbilden

Über die biologischen Unterschiede hinaus gibt es noch einen zweiten wesentlichen Aspekt des Gender Data Gap: Frauen werden in Entscheidungsfindungen seltener gehört als Männer – sei es in der Politik oder in Unternehmen. Es gibt schlichtweg Lebenswirklichkeiten, die Männer nicht erleben. Werden Frauen beispielsweise nicht in der Stadtplanung beteiligt, bleiben spezifische Bedürfnisse von Frauen einfach unberücksichtigt. Auch hier reichen die Beispiele von vermeintlichen Kleinigkeiten wie Parkplätze für schwangere Frauen dicht an der Tür eines Unternehmens bis hin zu der fatalen Tatsache, dass mehr als einmal in dem Wiederaufbau nach einer Katastrophe vergessen wurde, eine Küche in den Häusern zu integrieren. Ebenso wurden in Katastrophengebieten Lebensmittel wie Reis zur Verfügung gestellt, aber keine Möglichkeiten, um diesen zuzubereiten. Und ja – richtig vermutet – bei diesen Entscheidungen waren keine Frauen beteiligt.

Unbezahlte Care Work wird als selbstverständlich erachtet

An dieser Stelle werden im Buche ebenfalls die Folgen davon kritisiert, dass sogenannte Care Work (also Haushalt, Kinderbetreuung und Angehörigenpflege) nach wie vor zum überwiegenden Teilen von Frauen übernommen wird. Wie die Autorin ausführlich dargelegt, ist diese unbezahlte Arbeit essentiell für das Funktionieren unseres Wirtschaftssystems und Care Work in wirtschaftlichen Überlegungen nicht einzubeziehen, stellt eine der größten Gender Data Gaps dar: Schätzungen zu Folge macht unbezahlte Care Work in Industrieländern etwa 50% des BIP aus. Dennoch finden diese Aspekte unseres Lebens in politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen viel zu wenig Berücksichtigung – mit der Folge, dass gesellschaftliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern (Englisch: gender) aufrechterhalten werden. Beispielsweise hat eine Studie gefunden, dass Mütter mit doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit nach einer Geburt in ihrem Job zurückkehren, wenn es ausreichende Kinderbetreuungsangebote gibt (was aber leider oft nicht der Fall ist).

Wir müssen das System und nicht die Frauen ändern

Einen weiteres wichtiges Argument des Buches ist außerdem, dass das Problem häufig nicht im System, sondern bei den Frauen gesucht wird. Nehmen wir das Beispiel der durchschnittlichen Temperatur in öffentlichen Gebäuden und Büroräumen. Auch mir ganz persönlich ist in solchen Räumen häufig kalt. Unzählige Male wurde mir gesagt, ich sollte mich nicht so anstellen. Dass die Temperatur allerdings auf einen durchschnittlichen Mann im Anzug zugeschnitten und nachweisbar zu niedrig für Frauen ist, wurde nie in Erwägung gezogen. Als eines von vielen Beispielen verdeutlicht dies, wie es eine bequeme Lösung zu sein scheint, von Frauen zu verlangen einfach ein bisschen männlicher zu sein.

Die eigenen Privilegien erkennen

Es gab auch einige wenige Abschnitte des Buches, bei denen sich mir der Zusammenhang zwischen Geschlecht und Diskriminierung zumindest nicht vollständig erschlossen hat. Insbesondere im ersten Kapitel zur Stadtplanung war mir beispielsweise die Beschreibung, dass der Schnee in Städten oft zuerst auf den Straßen und erst später auf Fußwegen geräumt wird, nicht sofort als Benachteiligung für Frauen einleuchtend. Zwar ist auch dies logisch begründet und mit Zahlen belegt (Frauen nutzen häufiger Fußwege und verletzten sich im Winter dadurch häufiger), aber es scheint mir doch etwas weit hergeholt. Im Verlauf des Buches ist mir aber bewusst geworden, dass zwar diese Beispiele im Einzelnen nicht unbedingt relevant erscheinen, in ihrer Summe aber sehr wohl. Bei anderen Aspekten haben mir die weiteren Kapitel des Buches verdeutlicht, wie naiv mein erster Gedankengang war. Meine Sicht ist die einer vergleichsweise sehr privilegierten weißen Frau in einem westlichen Land, sodass ich mich nicht in alle Probleme hineinversetzen kann, denen Frauen anderer Herkunft oder in anderen Ländern begegnen. Auch hier hat mir das Buch nochmal verstärkt die Augen geöffnet.

Das Buch hat mich wütend gemacht

Grundsätzlich sollte auf jeden Fall gesagt sein, dass das Buch keine leichte Lektüre ist. Ich habe es im Urlaub gelesen und obwohl ich es unglaublich spannend fand, habe ich das Buch immer wieder zur Seite gelegt, da es mich wütend gemacht und nachhaltig auf meine Stimmung gedrückt hat. Daher würde ich empfehlen, mit einer anderen Person über das Gelesene zu sprechen. Das hat mir nicht nur geholfen, die einzelnen Kapitel noch besser zu verstehen, sondern die Beispiele bieten auch spannende Anhaltspunkte für weitere Diskussionen, wie wir ganz persönlich diese systematische Diskriminierung erleben. Gleichzeitig ist das auch eine gute Übung, die Themen an anderer Stelle – beispielsweise im beruflichen Kontext – anzusprechen, wenn du sie erlebst.

Wir brauchen mehr Daten

Eine der großen Stärken des Buches ist definitiv, dass es wissenschaftlich fundiert und mit zahlreichen Studien belegt ist. Gleichzeitig sagt die Autorin an mehreren Stellen, dass die Fakten darauf hindeuten, es aber schlichtweg nicht genügend aussagekräftige Daten gibt. Ich kann und möchte daher nicht beurteilen, ob alle genannten Beispiele wirklich standhalten. Letztendlich ist aber auch genau das die wesentliche Forderung der Autorin: wir brauchen mehr geschlechtsspezifische Daten, um strukturelle Benachteiligungen aufdecken und abbauen zu können. Was dennoch ohne Zweifel bereits heute nachweisbar ist, sind die zahlreichen systematischen Benachteiligungen von Frauen.

Es liegt an uns, die Zukunft zu verändern

Das leitet zu dem meiner Meinung nach wichtigsten Punkt über: Das Buch ist provokativ. Die Ankündigung, dass das Buch die eigene Sicht auf die Welt verändert, trifft für mich definitiv zu. Es ist eine Grundlage, bewusster den Alltag zu erleben und hat mich ermutigt, Dinge noch stärker zu hinterfragen und immer wieder anzusprechen. Besonders habe ich mich selbst dabei ertappt, wie ich viele Benachteiligungen einfach hinnehme oder sie mir nicht mal auffallen. Dabei geht es nicht um Kleinigkeiten – es geht um wesentliche Bestandteile unseres Lebens. Das Buch hat mich daher noch mehr motiviert, zu einer Veränderung beizutragen und den Status Quo nicht einfach zu akzeptieren. Als angehende Data Scientist habe ich die Chance, die aufgezeigte Datenlücke zu schließen. Je stärker unsere Welt in Zukunft von auf Daten basierenden Technologien beeinflusst wird, desto wichtiger ist, dass die Datengrundlage unsere Welt auch korrekt abbildet. Daher verstehe ich dieses Buch als Appell an jede und jeden, sich selbst die Probleme bewusst zu machen und immer wieder anzusprechen. Ich kann es daher sowohl Männern als auch Frauen absolut empfehlen. Genauer gesagt ist das Buch meiner Meinung nach ein absolutes Muss für alle, die Gleichberechtigung in unserer Gesellschaft ernsthaft verfolgen.

Verpasse keinen Artikel mehr.